Jom Kippur – das Unsichtbare sehen

Heute ist Jom Kippur, das grosse Versöhnungsfest. Der wichtigste jüdische Feiertag. Dies war der einzige Tag im Jahr, an dem der Hohepriester ins Allerheiligste eintreten durfte. Dort trat er als Vermittler zwischen Gott und dem ganzen Volk ein. Ein Austausch zwischen Gott und den Menschen fand statt. Als Christen glauben wir, dass Jesus unser ewiger Hohepriester ist, der Mittler in diesem neuen Bund zwischen Gott und Mensch. Der Bund ist in unsere Herzen geschrieben. (Hebärer 8)

Solange wir leben, findet ein Austausch mit unserer Umwelt statt. Wir essen, sehen, berühren, atmen, hören, … Obwohl in einem Körper direkt nach dem Übergang in den toten Zustand noch alle Moleküle vorhanden sind, findet trotzdem kein Austausch mit der Umwelt mehr statt. In derselben Art kann das Innenleben eines Menschen tot sein, weil es nicht mehr mit der unsichtbaren Welt austauscht. Keine Gebete werden mehr gesprochen. Kein Austausch mit unserem Schöpfer findet mehr statt.

In diesem Sinne starben auch Adam und Eva an dem Tag, als sie von der verbotenen Frucht assen. Ihr Austausch, der im Garten beim gemeinsamen Spaziergang stattfand, wird durch ihr Verlassen des Gartens unterbrochen. Sie sahen einen inneren Wert in einer irdischen Frucht. Die geistlose Frucht sollte sie in einen göttlichen Zustand bringen, obwohl Gott doch Geist ist und in der Unsichtbaren Welt, dem Himmel ist. Sie verbanden einen geistigen Wert mit der Einnahme einer materiellen Frucht, reduzierten ihr Leben auf das Sichtbare, auf ihre fünf Sinne. Eine innere Krise, die Scham, ausgelöst durch eine äussere Tatsache, ihre Nacktheit, wird nun von Gott durch ein äusseres Hilfsmittel, ein Fell, kaschiert. Dafür musste aber ein Tier sterben. Der Tod hält Einzug aufgrund einer inneren Krise.

Johannes spricht in Kapitel 3 davon, dass wer an den Sohn glaubt, das ewige Leben hat. Wieder erwarten spricht er dann aber nicht davon, dass wer nicht an ihn glaubt, auch das ewige Leben nicht besitzt. Er spricht davon, dass derjenige das Leben nicht sehen wird. Er sieht das Leben nicht, nicht nur das ewige Leben sieht er nicht, sondern Leben als solches. Leben beginnt im geistlichen Raum, mit den Naturgesetzen, der Information, der Idee, dem Wort. Wer sich dieser Tatsache verschliesst, erkennt das Leben nicht.

Das Jesus hier das Wort „sehen“ wählt ist bezeichnend. „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang.“ sagt uns Sprüche 9,10. Das hebräische Wort für Furcht, „jireh“, hat seine Wurzel im Wort für sehen, „ra‘a“. Wenn wir etwas nicht sehen, dann fürchten wir es auch nicht. Der Löwe hinter der Mauer kümmert uns nicht, solange wir ihn noch nicht entdeckt haben. So beginnt Weisheit mit dem Sehen Gottes. Er ist unsichtbar. Aber er offenbart sich uns als Architekt der Schöpfung. Er zeigte sich dem Volk Israel am Berg Sinai und gab ihnen die Thora. Und nicht zuletzt zeigte er sich in Jesus.

Dieses gegenseitige Sehen wird besonders bedeutend in der verstörenden Geschichte von Abraham, der von Gott gebeten wird, seinen einzigen Sohn ihm als Opfergabe zu bringen. Der Ort, an dem dieser Austausch zwischen Gott und Abraham stattfinden soll, heisst „Moriah“, was als „Jah ersieht“ oder „Jah erwählt“ übersetzt wird. Jah ist die Kurzform des Namens Gottes JHWH. Dort an diesem von Gott ersehenen Berg sollen sie sich treffen. Nachdem der Austausch stattgefunden hat, nennt Abraham den Ort „JHWH Jireh“, oft übersetzt als „Der HERR versorgt“ oder „Der HERR ersieht“. Es ist dasselbe Wort, dass in Sprüche 9,10 für „Furcht“ gebraucht wird.

Was aber wird ausgetauscht? Abraham wird von Gott aufgefordert, sein Leben, das in seinem Sohn weiterlebt, an Gott abzugeben. Darin zeigt Abraham, dass er mehr Ehrfurcht vor Gott hat als vor Jeglichem, was das Irdische bieten kann. Was gibt Gott dafür? Er zeigt sich ihm. Die Geschichte beginnt mit Gott, der nach Abraham ruft und dieser antwortet ihm: Hier bin ich. In dem Moment als Abraham sein Messer bereit hält zum Mord, stoppt der Engel JHWH’s ihn uns sagt: Hier bin ich. Er offenbart sich Abraham und zeigt ihm dadurch seine Ehrfurcht gegenüber dem Menschen, der ihn so sehr achtet, obwohl er ihn nicht sehen kann. Er fürchtet den Löwen, ohne ihn zu sehen.

Ich glaube, dass Gott diesen Weg wählt, weil die Menschen zu Abrahams Zeit dachten, dass man Gott auf diese Art begegnen muss. Etwas Materielles mit einem persönlichen Wert wird als Symbol dem Höchsten gebracht, um zu zeigen, dass ER wertvoller ist als jegliches Irdische. Gott wählt diese menschliche Sprache und verändert sie Schritt für Schritt in seine Sprache. Abraham gibt er ein Tier statt seines Sohnes, das er darbringen kann. Bei Jesaja fragt Gott bereits anstelle der Opfergabe, nach gerechtem Handeln. Die Opfergabe ist die Willenskraft, die Gott untergeordnet wird. Ein innerer Wert wird ausgetauscht. Bei Jesus endet jegliches opfern, weil er äusseres und inneres Opfer für ewig erfüllt.

Derselbe Ort „Moriah“, beziehungsweise „JHWH Jireh“ wird später der Ort „Bethel“, das „Haus Gottes“, an dem Jakob Engel zum Thron Gottes auf- und niedersteigen sieht. Also wieder ein Ort des Austausches zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt, zwischen Himmel und Erde. Noch später ist es der Tempelberg mit dem Tempel, in den der Hohepriester an Jom Kippur bis ins Allerheiligste gehen darf, um für das ganze Volk einzustehen, den Austausch herzustellen.

Jesus ist für uns dieser Hohepriester. Er wird zum „Tier“, das unsere Scham bedeckt und den Austausch wieder mögliche macht. Er unterordnet seinen Willen dem Willen Gottes. Der Vorhang zum Allerheiligsten ist gerissen. Jesus hat uns Zugang geschaffen zum Leben, das Austausch zwischen Gott und Menschen ist.

2 Gedanken zu “Jom Kippur – das Unsichtbare sehen

  1. Der Gedanke gefällt mir: Gott überführt den Opferbegriff im Laufe der Zeit bis hin zu Jesus, der das tut, was uns alle befreit: Gott zugehörig werden. Nicht mehr uns selbst.

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