Loslassen

„ Wann sind unsere Kinder so gross geworden? Wie und wann ist denn das passiert?“ Wenn ich mir diese Frage stelle, heisst das doch, dass ich nun schon etwas älter bin. Oder? Wir waren sehr jung, als wir unsere Kinder bekamen und ich fühlte mich immer als junge Mutter, aber nun ist unser Jüngster schon 10 Jahre alt und ich merke, dass ich nicht mehr so gut abschätzen kann, wie alt Kleinkinder sind, da ich keine Vergleichsmöglichkeiten mehr habe; ich habe keine Ahnung mehr welche Babykleidergrösse einem Baby mit 4 oder 8 Monaten passt (Da war ich mal sattelfest 😉); ich habe mich an Nächte gewöhnt, die nicht mehr unterbrochen werden; ich habe beinahe vergessen, wie Zeitaufwändig der Alltag mit Kleinkindern ist; wickeln, stillen, Essen schneiden, stundenlang Bilderbücher anschauen, Berge von Wäsche abtragen (um ehrlich zu sein, ist der Berg nicht wesentlich kleiner geworden, nur die Kleidungsstücke etwas grösser).

Ja, da geht eine Ära in unserer Familie zu Ende und oft frage ich mich, wenn ich unsere Grosse anschaue: „Haben wir ihr alles beigebracht, was sie wissen muss, um in der grossen, weiten Welt zu bestehen? Weiss sie worauf es im Leben ankommt? Haben wir ihr ein gutes Fundament mitgegeben?“ Dann wünsche ich mir gleichzeitig, dass sie immer gute Entscheidungen trifft, ehrlich zu sich selbst stehen kann und ihr Leben auf einen Felsen baut. Mit ihren 16 Jahren ist sie noch nicht dabei eine eigene Wohnung zu suchen, aber die Zeit mit ihr im engsten Familienkreis neigt sich dem Ende zu und bald wird sie losziehen um die Welt zu erobern.

Ist es Gott wohl so ergangen als er Adam und Eva „aufwachsen“ sah und sie dann hinaus in die Welt sandte, weil die Zeit reif war? Er wusste, dass er darauf vertrauen musste, dass das was er ihnen gelernt hatte während der Zeit im Garten zu gegebener Zeit, wieder in den Sinn kommen würde. Aus der Geschichte wissen wir, dass dies leider nicht so gut funktioniert hat. Die Menschen haben Gott vergessen und die Flut kam, weil Gott sonst Gefahr lief, dass auch Noah, der zu dieser Zeit der einzige war, der Gottes Stimme noch hörte, diese Fähigkeit auch noch verlor.

Doch durchs Band hinweg zeigt Gott im Alten Testament immer wieder wie er versucht die Menschen aus der Dunkelheit zu holen. Mit dem Volk Israel hat er ein Volk erwählt um durch dieses, die ganze Welt zu segnen. Das Volk hatte dies aber nicht so ganz begriffen, besonders nach den 400 Jahren Sklaverei, war dringend ein Aufbau von einigen Werten im Volk nötig. Die 40 Jahre in der Wüste waren so ein „erwachsen werden“ und Reifen für ein ganzes Volk. Der Prophet Hosea schreibt im 11 Kapitel: „…Ich hatte Ephraim laufen gelehrt und sie auf meine Arme genommen… “ Ich glaube Gott hat diese innige Zeit mit dem Volk Israel in der Wüste genossen. Er konnte ganz nah bei Ihm sein, so wie eine Mutter ihr Kind zu Welt bringt und dann nach und nach loslässt: loslassen aus dem eigenen Körper; loslassen, weil das Kind die Muttermilch nicht mehr benötigt; loslassen, weil das Kind nun selbst gehen kann; loslassen, wenn es für einige Stunden von jemand anderem betreut wird…  immer wieder loslassen, bis das Kind auszieht, flügge wird, eigenständig lebt, selbstständig entscheidet, selbst eine Familie gründet und seinen Teil in die Welt und die Gesellschaft einbringt. Die Eltern werden zu Grosseltern und vielleicht sogar zu Urgrosseltern.

Doch mit Gott ist es etwas anders. “Gott hat keine Grosskinder“, wie eine weise Freundin von mir einmal gesagt hat. Stimmt – unsere Kinder sind Gottes Kinder, genauso wie ich ein Kind Gottes bin. Gut zu wissen, dass ich meine Kinder, wenn sie aus dem Haus gehen, in Gottes Hand wissen darf. Ich gebe mein Bestes hier und jetzt und doch werden sie früher oder später eigene Entscheidungen treffen. Loslassen – ein Wort, das nicht immer einfach ist in der Umsetzung.

Besuch in der Vergangenheit

Wir reihen uns ein in den Strom der Reisenden nach Süden. Der Gotthard, das Nadelöhr, lässt den Verkehr verlangsamen. Die Kirche von Wassen dürfen wir lange anschauen 😉 Aber „jetzt halt“ – Wir sind unterwegs! – Unterwegs an einen Ort, den wir gut kennen. Einen Ort, den wir für etwas mehr als ein Jahr belebt haben. Einen Ort, an dem wir geträumt und gehofft haben. Ein Ort, an dem wir Tränen vergossen haben (vor allem ich) und schliesslich schweren Herzens wieder verlassen haben.

Nun sind wir also wieder da, diesmal nur für ein paar Tage. Für uns und unsere Kinder ist es wichtig uns unseren Gefühlen, die hier aufkommen zu begegnen, und uns all den Erinnerungen zu stellen (den guten wie auch den schlechten). Was suchen wir hier? Frieden? Versöhnung? Erinnerungen?

Ein Blick in die Vergangenheit ist wichtig, auch um uns zu erinnern, aber dann kommt auch wieder der Punkt, wo wir unsern Blick nach vorne richten müssen. Das Leben geht weiter. Egal wer oder was uns verletzt hat, wir stehen vor der Entscheidung; lassen wir uns vom Vergangenen bestimmen oder sagen wir uns: „Ich gehe weiter alles was hinter mir ist hat mich geprägt, aber es bestimmt nicht mein heute und mein morgen.“

Manchmal wäre es vielleicht einfacher und bequemer sich nicht mit sich selbst auseinanderzusetzen. Denn seien wir ehrlich; es ist Arbeit, oftmals sehr schwere Arbeit, sich mit all den verletzten Gefühlen, antrainierten Verhaltensweisen oder geplatzten Träumen auseinanderzusetzten und doch denke ich, dass sich dieser Prozess lohnt.

Wir schaffen nun neue Erinnerungen an diesen Ort. In den letzten Tagen haben wir mit einem Team aus YWAM Olten einen Kurzeinsatz gemacht. Das sind neue Erinnerungen! Erinnerungen an gemeinsame Gebete in der kleinen Steinkirche, Erinnerungen an ein kaltes Bad im Bach, Erinnerungen an die schweisstreibende Holzschlepperei, Erinnerungen an lange Gespräche und UNO spielen bis das Tageslicht verschwunden ist.

Nach einem Blick in die Vergangenheit machen wir uns auf und richten unseren Blick wieder nach vorne. Welche Abenteuer warten da noch auf uns?